Der Kritiker

Der Fall Kallmann: Er sieht, was du getan hast

Die verzweigten Äste eines kahlen Baumes sind mit Schnee bedeckt.

Håkan Nesser braucht keinen Kommissar Van Veeteren und auch keinen Inspektor Barbarotti, um einen überzeugenden Kriminalroman zu erzählen. „Der Fall Kallmann“ kommt ohne einen Polizisten als treibende Hauptfigur aus – und das ist gut so. Nesser verlässt sich ganz auf die Stärke, die aus der Figurenkonstellation seiner Erzählung hervorgeht. Drei Lehrer, zwei Schüler, eine Mutter und die Tagebücher eines Toten berichten aus der Ich-Perspektive abwechselnd von den Ereignissen in der schwedischen Kleinstadt K., in der sich kurz vor Beginn des neuen Schuljahres ein Todesfall ereignete.

Der Tote ist der charismatische und zugleich exzentrische Schwedisch-Lehrer Eugen Kallmann. Ein Mann mit einem dunklen Geheimnis. Ein Mann, der sich für alte Kriminalfälle interessierte, wie sich nach dessen Tod herausstellt. Sein Nachfolger findet dessen alte Tagebücher. Doch ist das dort geschriebene Wahrheit oder Fiktion – oder gar von Beidem etwas? Und welche Rolle spielen der hochintelligente Schüler Charlie und dessen Klassenkameradin Andrea?

Nesser zeigt sich in „Der Fall Kallmann“ sozialkritisch

Nesser belässt es nicht bei den klassischen Fragen eines Kriminalfalls. Er nutzt den Roman „Der Fall Kallmann“ zur Sozialkritik. Nesser legt den Finger tief in die Wunde der nordeuropäischen Gesellschaft. In Schweden erschien der Krimi bereits 2016, also im Jahr nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise in Europa.

Buchcover des Kriminalromans "Der Fall Kallmann" von Hakan Nesser - Erschienen im btb Verlag
„Der Fall Kallmann“ von Håkan Nesser, Cover: btb Verlag, ISBN: 978-3-442-75728-2

Mahnend macht er in seiner Erzählung, die im Kern in den Jahren 1995 und ‘96 spielt, bewusst wie Fremdenhass und Rasissmus in einer Kleinstadt schnell Fronten schaffen können. Da hilft auch das eher liberale schwedische Einwanderungsrecht nicht. Auch die freie Liebe im Verständnis der 68er-Bewegung kann die Bande einer Kleinstadt erschüttern. Und wenn dann einer ihrer Einwohner unter Mordverdacht gerät, steht das Kleinstadtleben nicht nur in K. Kopf.

Tiefgründige Zeichnung des Kleinstadtlebens

Dass Nesser darauf verzichtet, die aktuelle Flüchtlingskrise als Handlungselement zu nutzen, macht seine Botschaft letztlich umso stärker. Denn „Der Fall Kallmann“ entfaltet so abseits der aufgeheizten Debatten über Flüchtlinge, Migranten und Helfer eine ganz eigene Wirkung. Dennoch steht die aktuelle Krise stets im Hintergrund, denn sie ist den Lesern vertraut.

Es ist am Ende gerade die tiefgründige Zeichnung des Kleinstadtlebens, die den Roman „Der Fall Kallmann“ prägt. Nesser beschreibt Verwicklungen in persönlichen Beziehungen der Hauptfiguren und erzählt vom Aufeinandertreffen liberaler und konservativer Gesellschaftsbilder. Ihm gelingt es durch seine Ich-Erzähler seinen Kriminalroman zu einem Zeitbild werden zu lassen. Die Spannung des Kriminalromans bleibt dabei erhalten. Die Puzzleteile des Falls Kallmann fügen sich erst nach und nach zu einem komplexen Bild zusammen, das dank Nessers Geschick erst ganz zum Schluss das wahre Geschehen enthüllt.

Nicht nur Liebhaber schwedischer Kriminalromane dürfen hier beruhigt zum Buch oder Hörbuch greifen. „Der Fall Kallmann“ von Håkan Nesser hat alles, was ein spannender Roman braucht.

Das Buch:

Håkan Nesser: Der Fall Kallmann
btb Verlag, ISBN: 978-3-442-75728-2

576 Seiten, Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
Erschienen am 30. Oktober 2017