Jahreszeiten

Im Zug | Eine Kurzgeschichte

Dampflok fährt in den Museumsbahnhof Rosenhoehe ein

Draußen ist es bitterkalt. Es müsste schneien. Es schneit aber nicht. Es regnet. In gleichmäßigem dam-dam rattern die Räder des Zuges die Schienen entlang. Es ist der Heilige Abend. Ob niemand auf mich warte, werde ich gefragt. Ich denke nach und antworte knapp: „Doch, meine Katze.“

Die ältere Dame gegenüber wendet sich beleidigt von mir ab und bemuttert ihren Enkel. Einem entzückenden kleinen Fratz, wenn er nicht ständig gegen mein Schienbein treten würde.

Ich räuspere mich und blicke wieder aus dem Fenster. Der Regen ist stärker geworden. Verschwommen entdecke ich in der Ferne die Lichter eines Dorfes.

Im Abteil gegenüber wird gestritten. Ich will meine Ruhe haben, will schon aufstehen und etwas sagen, da öffnet sich die Tür und ein Jugendlicher kommt herein.

Er blickt skeptisch in die Runde, mustert die ältere Dame und setzt sich neben mich. Bevor er den Mund aufmachen kann, erkläre ich ihm: „Ich steh nicht auf Smalltalk, also lass es bleiben. Auf mich wartet niemand zu Hause. Das ist auch gut so. Und auf Frauen kann ich an Weihnachten genauso verzichten, wie auf halbstarke Jugendliche und Kinder!“

Der Junge blickt mich irritiert an, dann schaut er zu dem anderen Abteil hinüber. Ich schaue lieber wieder aus dem Fenster. Weihnachten – so ein sentimentaler Quatsch. Das „Fest der Liebe“. Das gehört doch verboten!

Der Junge steht auf und verlässt das Abteil. Die Tür lässt er offen. Er klopft an die Abteiltür gegenüber und flüstert: „Marie?“

Es kommt ein schriller, wütender Aufschrei als Antwort, dann herrscht Stille.

Erneut fragt er: „Marie?“

Dieses Mal bekommt er seine Antwort: „Scher dich zum Teufel, der kann dich vielleicht noch gebrauchen. Stürze dich doch am besten aus dem Zug. Ich bin fertig mit dir!“

Leichenblass kommt der Junge zurück in mein Abteil. Er bemerkt nicht einmal, dass die alte Dame empört ihrem Enkel die Ohren zugehalten hat. Ich halte das nicht länger aus und gehe in den Speisewagen.

Festtagsmenü: Je eine Scheibe Rinder-, Schweine- und Gänsebraten – alles schön zäh. Empört lasse ich meinen Teller stehen und ziehe los, um mich zu beschweren. Natürlich ist kein Zuständiger weit und breit zu finden – aber ich suche weiter.

Plötzlich spüre ich einen starken Luftzug und sehe eine Gestalt in der offenen Waggontür stehen. Die Gestalt dreht sich um und blickt mir in die Augen.

In meinem Kopf startet ein Déjà vue:

Ich bin zwölf Jahre alt. Mutter und Vater hatten sich im Sommer getrennt. Es war der erste Heilige Abend, den wir nicht zusammen feiern würden. Wie ein Auto, das man sich buchen kann, haben sie festgelegt, welchen Weihnachtsfeiertag ich bei wem zu verbringen hatte.

Mein Vater war nicht glücklich mit der Trennung und der anstehende Scheidung. Er litt enorm darunter. Später erfuhr ich, dass er seit der Trennung mit Depressionen zu tun hatte, doch das wusste ich da noch nicht.

Mein Vater hing an Traditionen und so durfte ich erst mit dem Erklingen der ersten Strophe von „Stille Nacht, heilige Nacht“ das Weihnachtszimmer betreten. Als die Melodie  von einer alten Schallplatte erklang, stürmte ich ins Wohnzimmer. Die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten, die Geschenke lagen darunter, doch mein Vater fehlte. Ich rief nach ihm – bekam aber keine Antwort.

Kühle Luft strömte durch den Flur vom Arbeitszimmer herüber. Als ich die Tür des Zimmers erreichte, sah ich Vater vor dem geöffneten Fenster stehen. Wie in Zeitlupe sah ich seinen traurigen Blick, dann stürzte er sich aus dem Fenster des Hochhauses.

Weihnachten hat seitdem für mich die Bedeutung verloren. Die Fabel um das Kind in der Krippe ist zu einer Farce verkommen. Harmonie wurde zu einem Fremdwort für mich.

Ich weiß nicht warum, aber plötzlich erkenne ich die Gestalt in der Wagentür. Es ist der Jugendliche von vorhin. Das Weihnachten von vor vierundzwanzig Jahren soll sich nicht noch einmal wiederholen. Er darf einfach nicht springen.

Ich umschlinge den Brustkorb des Jungen mit meinen Armen und ziehe ihn von der Tür fort. Dann schleife ich ihn zur Bar. Während der Kellner dem Jugendlichen eine Tasse heißen Punsch bringt, frage ich: „Was ist los mit dir, Junge?“

Im Hintergrund höre ich die Melodie von „Stille Nacht, heilige Nacht“ und spüre, dass das Trauma in mir überwunden ist.

„Warum interessiert Sie das? Smalltalk interessiert Sie doch nicht!“, ist seine Antwort.

Wenn ihr jetzt schockiert seid und darüber nachdenkt, ob mir das widerfahren ist, dann kann ich euch beruhigen. Die Geschichte ist frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten, Personen oder Firmen sind nicht beabsichtigt und somit zufällig.